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Geschriebenes

Schlaflos
(aus: Wo ist der Mörder, net-Verlag, 2011)

Trotz des Lokalanästhetikums spürte Kathrin die Nadelstiche, mit denen der junge Arzt ihre Schnittwunden versorgte. Der längste der vier Schnitte verlief über den Handrücken ihrer linken Hand. Die anderen drei Schnitte zierten ihren Unterarm in regelmäßigen Abständen. Diese waren deutlich kürzer als der erste Schnitt, dafür umso tiefer.
„Sie wissen wirklich nicht, wie sie zu dieser Verletzung gekommen sind?“
Kathrin konnte die Skepsis nicht nur aus Dr. Hermanns Stimmlage heraushören, sondern auch an seinen kantigen Gesichtszügen erkennen. Die gleiche Frage hatte ihr bereits die Krankenschwester in der Notaufnahme gestellt.
„Nein, ich bin schlafen gegangen und als ich aufwachte, habe ich die Wunden bemerkt.“
Schweigend setzte der Arzt die letzten Stiche. Kathrin ahnte, dass er es nicht bei ihrer Antwort belassen würde. Immerhin könnte ihre Verletzung ein Hilfeschrei sein, dem ein pflichtbewusster Arzt nachgehen musste. Sie hatte schon öfters Schüler unterrichtet, die sich mit Rasierklingen skurrile Muster in ihre Haut ritzten. Sie nutzten dies bewusst als Ventil für ihre seelischen Schmerzen, die sie nach Missbrauch oder Misshandlung zurück behalten hatten. Kathrin erschien dies angesichts ihrer eigenen Wunden und augenblicklichen Schmerzen absurd.
„Ich glaube ihnen nicht! Sie müssen doch irgendwas gemerkt haben, es sei denn sie stehen unter Drogen. Den Eindruck machen sie mir nun aber auch nicht!“
Kathrin war sich unsicher, ob Dr. Hermanns Stimme diesmal vorwurfsvoll oder neugierig klang. Aber sie war sicher, dass er nicht aufhören würde immer wieder nachzufragen bis seine Neugierde gestillt war. So unglaublich es für Dr. Hermanns klingen wollte, Kathrin hatte ihm die Wahrheit gesagt. Sie konnte sich an nichts erinnern.
„Schauen sie mich an Kathrin. Die Narbe in meinem Gesicht erinnert mich jeden Tag an einen Motorradunfall, den ich vor drei Jahren hatte. Ihre Wunden verheilen innerhalb der nächsten Wochen. Aber es werden Narben zurückbleiben, die sie als Erinnerung immer mit sich herumtragen werden. Gerade deshalb sollten sie mir sagen, wer ihnen das angetan hat.“
„Mir hat das niemand angetan. Ich weiß wirklich nicht, wie es passiert ist. Ich kann mich nur an einen Traum erinnern.“
„Was für ein Traum? Was genau ist geschehen? “
Kathrin spürte wie Dr. Hermanns Neugierde wuchs und er mit seinen tiefblauen Augen, von denen das Rechte durch die Narbe verzerrt wurde, ihren Blick suchte.
Kathrin konnte sich sehr oft an ihre Träume erinnern, in denen sie Freunde und Verwandte traf. Herausgelöst aus der Realität tanzte sie mit ihrem verstorbenen Großvater auf Wolken oder verwandelte sich ebenso wie ihre Schwester in einen Schmetterling. Gemeinsam überflogen sie eine Blumenwiese. Ihre Erinnerung an das Geträumte war meistens verschwommen und unklar. Zusammenhanglose Bruchstücke eines Mosaiks, das nicht mehr zusammengesetzt werden konnte, nachdem sie einmal erwacht war. Das Mosaik der vergangenen Nacht hingegen konnte sie vollständig rekonstruieren.
„Ich bin aufgewacht, weil ich Hunger hatte. Ich bin in die Küche gegangen, habe mir ein paar Sandwichs gemacht und habe mich dann wieder ins Bett gelegt um weiter zu schlafen.“
Dr. Hermanns schwieg, während er über ihre Geschichte nachdachte. Es erschien Kathrin völlig absurd, dass dieser Traum etwas mit ihren Verletzungen zu tun haben könnte.
Dr. Herrmanns verließ den Behandlungsraum ohne sich von Kathrin zu verabschieden oder ihr zumindest gute Besserung zu wünschen. Eine Krankenschwester verband Kathrins Arm mit einer weißen Mullbinde. Die anschließende Tetanusschutzimpfung brannte leicht unter ihrer Haut, so dass sie den Einstich der Injektionsnadel kaum spürte. Bevor Kathrin sich von der Krankenschwester verabschieden konnte, kehrte Dr. Hermanns zurück. Aus seiner Kitteltasche zog er ein Taschenbuch und eine Faltbroschüre. Beide trugen den Titel Schlafstörungen.
„Wenn sie etwas Zeit haben würde ich ihnen gerne etwas zeigen.“

„Schlafwandeln? Du? Wir sind seit fünf Jahren verheiratet. Ich habe bisher noch nie bemerkt, dass du schlafwandelst.“ Georg achtete sehr auf gutes Benehmen und Etikette. Sein einziger Makel war, dass er während des Kauens redete.
„Und wie soll ich deiner Meinung nach an die Verletzungen gekommen sein?“
„Was weiß ich. Vielleicht bist du in der Küche mit dem Messer ausgerutscht und jetzt ist es dir peinlich zuzugeben, dass du nicht damit umgehen kannst.“ Demonstrativ lässig teilte Georg sein medium gebratenes Steak. Das kleinere Stück verschwand hinter seinen strahlend weißen, gebleichten Zähnen.
„Ausgerutscht? Viermal?“
Nacheinander folgten Kartoffeln und gedünstete Prinzessbohnen Georgs Steak. Diesmal sprach Georg nicht mit vollem Mund. Langsam zerkaute er sein Gemüse, während er auf dem Teller bereits ein weiteres Stück Rindfleisch mundgerecht präparierte. Für Kathrin hatte er nur ein unmotiviertes Schulterzucken übrig.
Ihr eigenes Abendessen war unberührt. Zu groß war der Schock über Georgs Desinteresse und das fehlende Mitgefühl des Mannes, den sie vor fünf Jahren geheiratet hatte. Dafür leerte sie ihr drittes Glas Rotwein. Allmählich spürte sie wie sich Schmerzmittel und Alkohol zu einem benebelnden Gemisch vereinten. Fünf Jahre Ehe waren vergangen. Von dem Glück und der Geborgenheit, die sie damals empfunden hatte war nicht mehr viel übrig. Die Distanz zwischen Georg und ihr war mittlerweile astronomisch.
„Wieso bist du dir so sicher, dass ich nicht schlafwandle? Du hast schon seit Wochen nicht mehr hier geschlafen. Wenn du überhaupt nach Hause kommst, schläfst du im Gästezimmer.“
Kathrin bereute den Vorwurf schon in dem Moment, in dem sie ihn ausgesprochen hatte. Georg war kein Mann, der einer Konfrontation aus dem Weg ging, sondern sich ihr stellte bis er als Sieger aus ihr herausging. Aufrechter Oberkörper, aufmerksame Augen, eine leise, fast schon bedrohliche Stimme. So stellte sie sich Georg während eines seiner gefürchteten Kreuzverhöre im Gerichtssaal vor.
„Wirfst du mir etwa vor, dass ich das hier für uns aufgebaut habe?“ Seine rechte Hand kreiste besitzanzeigend vor seinem Körper. Georg nahm sie ins Kreuzverhör.
„Das Geld, durch das du dir ein Luxusleben leisten kannst, verdient sich nicht von alleine. Dafür müssen wir beide Opfer bringen!“
„Zeit füreinander zu haben ist auch ein Luxus…“
„… den ich mir bei meinen vielen Klienten im Moment nicht leisten kann!“
Georg sagte dies mit einer Bestimmtheit, die in Kathrin jegliche Diskussionsbereitschaft versiegen lies. Kathrin war sich nicht sicher was mehr schmerzte. Die Wunden, die sie sich wahrscheinlich selbst zugefügt hatte oder die seelischen Wunden in Form von Georgs Unverständnis und ihrer Angst vor sich selbst. Wenn sie sich schon einmal verstümmelte, ohne dass es ihr bewusst war, könnte sie auch ein zweites Mal dazu fähig sein. Um Gewissheit zu bekommen blieb ihr keine andere Wahl als auf das Angebot Dr. Hermanns einzugehen.

In den folgenden Wochen ließ Kathrins Angst vor sich selbst sie kaum schlafen. Dr. Hermanns hatte ihr Schlaftabletten verschrieben. Eine sollte sie davon nehmen. Sie wurde durch diese kleine weiße Tablette mit eingekerbtem A zwar ruhiger, lag trotzdem noch wach im Bett. Wirklich einschlafen konnte sie nur wenn sie zwei der Tabletten schluckte. Die möglichen Nebenwirkungen einer Überdosierung, wie sie auf der Packungsbeilage beschrieben waren, ignorierte Kathrin gewissenhaft. Wenige Tage später hatte sich ihr Körper bereits an das Medikament gewöhnt. Um die ruhelosen Nächte nicht sinnlos verstreichen zu lassen flüchtete sie sich gedanklich in die Vergangenheit, in eine Zeit, in der ihr Leben noch in geordneten Bahnen verlief. Die Urlaubsbilder der letzten fünf Jahre ruhten immer noch unsortiert in Falttaschen. Ihr hatte immer die Zeit gefehlt, die gelungenen Fotografien von den missglückten Schnappschüssen zu trennen und in Fotoalben zu kleben. Für Georg waren Fotoalben altmodisch, für Kathrin stellten sie ein Erinnerungsstück dar, persönlicher als es eine CD mit Bilddateien jemals sein konnte.
Kathrin ging fünf Jahre zurück. Georg kaufte speziell für diesen Urlaub eine Unterwasserkamera. Sie konnten zwar beide nicht tauchen, aber das Hausriff des ägyptischen Hotels bot auch für Schnorchler genügend farbenfrohe Fische. Auf vielen Fotos waren sie gemeinsam abgelichtet, lachend, Arm in Arm. Kathrin klebte die Bilder mit Fotoecken in das Album.
Ein Jahr später brachen sie mit Georgs neuem Mercedes zu einer Italienrundfahrt auf. Pisa, Rom, Turin, Neapel. Und schließlich als Höhepunkt Venedig. Kathrin besuchte vor dieser Reise einen Volkshochschulkurs. Sie freute sich darauf in Italien mit Italienern italienisch zu sprechen. Georg zeigte bereits damals kein Verständnis für sie. Englisch würde man auch in Südeuropa sprechen. Viele Fotos zeigten typische Bauwerke der besuchten Städte im Hintergrund, einen breit grinsenden Georg im Vordergrund. Auf einem Bild waren sie gemeinsam zu sehen, vor ihnen eine riesige Pizza, die sie sich teilten. Der freundliche Kellner hatte sie fotografiert, nachdem Kathrin in darum gebeten hatte, auf italienisch.
Den letzten gemeinsamen Urlaub hatten sie vor drei Jahren in London verbracht. Auf mehr als einen fünftägigen Städtetrip konnten sie sich nicht einigen. Während Kathrin über die Londoner Flohmärkte schlenderte, nahm Georg geschäftliche Termine wahr. Am Abend trafen sie sich um gemeinsam essen zu gehen und das ein oder andere Musical zu besuchen. Bilder, auf denen Georg und Kathrin gemeinsam abgelichtet waren gab es keine. Seit zwei Jahren waren sie nun nicht mehr gemeinsam verreist. Kathrin klebte auch von diesem Londontrip die gelungenen Bilder in das Album ein, bis sie die letzte Seite erreicht hatte.

Diesmal hinderten sie die vielen Kabel an ihrem Kopf und Oberkörper am Einschlafen. Es war für Kathrin unmöglich sich bequem in das sowieso schon harte Krankenhausbett zu legen. Ständig zwickte eine Elektrode oder zog eines der Kabel an ihrer Haut. Dr. Hermanns hatte mehrmals betont, wie wichtig die Messung ihrer Gehirn- und Herzströme sei. Zusätzlich war eine Videokamera über ihr montiert, die hauptsächlich ihre Augenbewegungen filmen sollte. Eine zweite Kamera erfasste das gesamte Bett, in dem sie lag. Durch ein Fenster konnte sie in den Nachbarraum schauen, in dem leuchtende Computermonitore die einzigen Lichtquellen waren. Dr. Hermanns hatte ihr erklärt, dass er sie von diesem Raum aus komplett überwachen konnte während sie schlief. Er gab ihr dadurch ein Gefühl der Sicherheit, wie sie es seit ihren ersten Verletzungen nicht mehr kannte. Beruhigt schloss Kathrin ihre Augen.

Kathrins Schlafstörungen hatten auch nach Dr. Hermanns Diagnose nicht aufgehört. Sie war Schlafwandlerin und konnte sich nicht beherrschen. Unbewusst stellte sie im Schlaf eine Gefahr für sich selbst dar, ohne es überhaupt zu merken. Zwar verschloss sie jedes Mal die Küche, bevor sie schlafen ging, aber ihre Ängste ließen sie trotzdem nicht schlafen. Kathrin vermisste jemanden, der sie beschützte und auf sie aufpasste. Kathrin vermisste den Georg, in den sie sich vor Jahren verliebt hatte. An diesem Abend hatte ihr Georg bereits seine obligatorische „Arbeite länger, warte nicht auf mich“ – SMS geschickt. Kathrin wusste, dass er keine Zeit für sie haben würde, aber sie konnte im Besprechungsraum der Kanzlei auf ihn warten und gemeinsam mit ihm nach Hause fahren.

Georgs vulgäre Aussprüche und das lustvolle Stöhnen seiner Sekretärin hallten Kathrin bereits entgegen, als sie die Eingangstür zur Kanzlei geöffnet hatte. Bewegungslos blieb sie in der Tür stehen und lauschte. Wann waren sie das letzte Mal intim gewesen? Kathrin konnte sich diese Frage nicht beantworten. Unbemerkt verließ Katrin die Kanzlei. Die Fahrstuhltür stand noch offen, als sie diesen betrat und die Taste für das erste Untergeschoss drückte. In der Tiefgarage angelangt ,beschleunigte sie ihren Schritt je näher sie ihrem Audi kam. Ihr letztes Geburtstagsgeschenk von Georg. Wahrscheinlich eine Art Gewissensberuhigung. Kathrin wollte nur noch nach Hause und dann…
Was dann? Die Vollbremsung schleuderte sie gegen das Lenkrad. Der stechende Schmerz in ihrer Brust erinnerte sie an den nicht angelegten Sicherheitsgurt.
Was dann? Kathrin fuhr langsam weiter um genügend Zeit zum Nachdenken zu haben.

Eingehüllt in schwarzer Satinbettwäsche lag Kathrin bereits seit mehreren Stunden in ihrem Bett, als sie das Öffnen und Schließen der Eingangstür hörte. Die Leuchtziffern ihres Radioweckers zeigten bereits drei Uhr fünfzehn an. Der leichte Herrenabsatz Georgs Designerschuhe verursachte auf seinem Weg in die Küche ein ähnliches Geräusch wie ihre eigenen hohen Absätze. Kathrin hörte, dass der Kühlschrank geöffnet wurde. Sie stellte sich vor, wie Georg die kühle Milch direkt aus der Flasche trank. Mit seinem rechten Handrücken wischte er sich den Milchbart ab, der sich um seine Lippen herum gebildet hatte. Die selben Lippen, die er vor kurzer Zeit noch auf Mund und Körper seiner Sekretärin gedrückt hatte, mit denen er an ihren Brustwarzen gesaugt hatte.

Georgs Schritte führten nun von der Küche aus ins Gästebad. Toilettenspülung, Wasserhahn, elektrische Zahnbürste. Schritte, die zum Gästezimmer führten. Danach Stille. Georg schlief im Allgemeinen schnell ein, dennoch wartete Kathrin noch eine Stunde bevor sie sich auf den Weg zur Küche machte. Aus dem Messerblock nahm sie das Filetiermesser. Auf ihrem Weg ins Gästezimmer verursachten Kathrins nackte Füße auf dem kühlen Fliesenboden keinen Laut. Georg lag auf dem Rücken. Den Kopf, unter dem seine linke Hand lag, leicht nach links gedreht, ihr zugewandt. Seine rechte Hand ruhte auf seinem Waschbärbauch. Seine Festinauhr trug er immer noch am Handgelenk. Georg war einer der wenigen Menschen, die Kathrin kannte, die ihre Armbanduhr rechts trugen. Und er war der einzige überhaupt, der sie selbst nachts nicht auszog. Jahrelang hatte sie sich darüber gefreut, dass er ihr Geschenk zu ihrem ersten Hochzeitstag so oft wie möglich trug, fast nie ablegte. Die Gravur auf der Innenseite hatte sie selbst gemacht. In Liebe für immer, Kathrin. Immer hatte gerade fünf Jahre gedauert, ihre Liebe war Vergangenheit, ersetzt durch die Enttäuschung und die Wut der Gegenwart.
Als das Messer in seinen speckigen Bauch glitt, riss er die Augen auf. Nach dem dritten Stich begann er zu schreien. Kathrin hörte erst auf, als Georg wieder schwieg.
Auf ihrem Rückweg in ihr Schlafzimmer fielen dunkelrote Bluttropfen von ihrem Nachhemd auf den Parkettboden. In ein paar Stunden, nachdem sie etwas geschlafen hatte, würde sie die Polizei rufen. Die Polizeibeamten und vielleicht auch der Staatsanwalt würden sie verhören. Sie würde aussagen, sich an nichts erinnern zu können. Trotzdem rechnete sie mit einer Anklage wegen Mordes. Der Richter würde sie aber freisprechen müssen. Sie war nun mal Schlafwandlerin und niemand konnte sie für das verantwortlich machen, was sie in ihrem Schlaf sich selbst oder anderen antat.

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